Rechtsprechungsübersicht 2021

- 4. Juli 2022 -
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Fotocredits: Photo by Tingery Injury Law Firm on Unsplash

Die wichtigsten kollektiv-rechtlichen BAG-Entscheidungen des Jahres 2021 im Überblick

1. Keine Änderung der individuellen wöchentlichen Arbeitszeit durch Betriebsvereinbarung

Die vertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit kann nicht aufgrund einer Betriebsvereinbarung geändert werden. Eine solche Bestimmung ist wegen Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unwirksam.

Die Regelungssperre greift nur dann nicht durch, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen. Die Festlegung der Dauer der regelmäßigen Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit unterliegt gerade nicht der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats.

Eine konkludente Änderung des Umfangs der wöchentlichen Arbeitszeit ist grundsätzlich möglich, sofern der Arbeitnehmer seine Tätigkeit nach einem Änderungsangebot des Arbeitgebers widerspruchslos fortsetzt. Erforderlich ist jedoch, dass der Arbeitnehmer erkennen kann und muss, dass seine Weiterarbeit als Einverständnis zu der angebotenen Vertragsänderung verstanden wird. Davon ist nach der Rechtsprechung des BAG dann nicht auszugehen, wenn der Arbeitnehmer die widerspruchsfreie Weiterarbeit in der Annahme leistet, dass diese aufgrund einer (unwirksamen) Betriebsvereinbarung geschuldet sei.

BAG, Urteil vom 17.08.2021 – 1 AZR 191/20

 

2. Keine sofortige Beschwerde gegen Beschluss über Besetzung der Einigungsstelle

Gegen einen landesarbeitsgerichtlichen Beschluss, durch den über die Besetzung einer Einigungsstelle im Sinne des § 100 ArbGG entschieden wurde, ist keine sofortige Beschwerde nach § 92b ArbGG gegeben.

Der in § 100 Abs. 2 S. 4 ArbGG angeordnete Ausschluss eines weiteren „Rechtsmittels“ erfasst auch die sofortige Beschwerde im Sinne des § 92b ArbGG.

Mit dem besonderen Beschlussverfahren des § 100 ArbGG soll sichergestellt werden, dass die Betriebsparteien schnellstmöglich die Gelegenheit erhalten, eine Einigung im Rahmen einer Einigungsstelle zu erzielen. Dieser Zweck würde nach der Ansicht des BAG verfehlt, wenn bei einem verspätet abgesetzten, aber bereits verkündeten Beschluss des Landesarbeitsgerichts dennoch eine Beschwerdemöglichkeit eröffnet wäre.

BAG, Beschluss vom 11.08.2021 – 1 AZB 24/21

 

3. Keine Nichtigkeit der Betriebsratswahl wegen fehlerhafter Wählerliste

Die Nichtzulassung von wahlberechtigten Arbeitnehmern berechtigt als Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht i. S. d. § 7 BetrVG zwar grundsätzlich zur Anfechtung der Betriebsratswahl. Sie ist aber regelmäßig nicht geeignet, die Nichtigkeit der Wahl zu begründen.

Voraussetzung für die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist ein so eklatanter Verstoß gegen fundamentale Wahlgrundsätze, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht.

Die Nichtigkeit der Betriebsratswahl kann daher nicht auf Umstände gestützt werden, die nur für die Mitglieder des Wahlvorstandes erkennbar sind. Vielmehr ist für die Beurteilung der Offenkundigkeit eines Verstoßes der Standpunkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Dritten maßgeblich.

BAG, Beschluss vom 30.06.2021 – 7 ABR 24/20

 

4. Kein Folgenbeseitigungsanspruch bei mitbestimmungswidrigem Verhalten des Arbeitgebers

Im Rahmen des § 87 Abs. 1 BetrVG kann der Arbeitgeber Maßnahmen nur mit der Zustimmung des Betriebsrats durchführen. Verstößt er hiergegen, entsteht ein betriebsverfassungswidriger Zustand. Diesem kann der Betriebsrat durch die Geltendmachung eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs sowie eines entsprechenden Beseitigungsanspruchs entgegenwirken.

Der Unterlassungsanspruch ist auf die Untersagung des künftigen Verhaltens gerichtet. Dagegen zielt der Beseitigungsanspruch darauf ab, die unter Verletzung des Mitbestimmungsrechts eingetretene und andauernde mitbestimmungswidrige Lage zu beenden. Der Beseitigungsanspruch reicht dabei nicht weiter als der Inhalt des zu sichernden Mitbestimmungsrechts.

Das BAG hat nunmehr klargestellt, dass sich der Anspruch nur auf die Beseitigung des betriebsverfassungswidrigen Zustands selbst – nicht aber auf die Beseitigung der sich daraus ergebenden Folgen – bezieht.

BAG, Beschluss vom 23.03.2021 – 1 ABR 31/19

 

5. Kein Auskunftsanspruch über vertragsbezogene Daten in einem Gemeinschaftsbetrieb

Der in einem Gemeinschaftsbetrieb gebildete Betriebsrat hat gegenüber gemeinsam in Anspruch genommenen Arbeitgebern keinen Anspruch auf eine zeitlich unbegrenzte Überlassung von Entgeltdaten der im Gemeinschaftsbetrieb beschäftigten Arbeitnehmer.

Eine entsprechende Auskunft kann der Betriebsrat eines Gemeinschaftsbetriebs – wenn überhaupt – nur gegenüber dem jeweiligen Vertragsarbeitgeber geltend machen. Nur dieser kann über die von ihm vorgehaltenen Vertragsdaten eigenständig verfügen.

Ungeachtet dessen hat das BAG den vom Betriebsrat begehrten Anspruch auf eine zeitlich unbegrenzte Überlassung von Entgeltdaten im zugrundeliegenden Fall bereits dem Grunde nach abgelehnt:

Die Ansprüche der §§ 13 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 EntgTranspG greifen nur, sofern der Betriebsrat ein konkretes individuelles Auskunftsverlagen zu beantworten hat. Dem Anspruch aus § 80 Abs. 2 S. 2 BetrVG genügt der Arbeitgeber darüber hinaus bereits dann, wenn er dem Betriebsrat Einblick in die schriftlich gefassten Daten ermöglicht.

BAG, Beschluss vom 23.03.2021 – 1 ABR 7/20

 

6. Kein Beschlusserfordernis über Zulässigkeit von Teilfreistellungen

Die Wahl von teilfreigestellten Betriebsratsmitgliedern ist auch dann möglich, wenn der Betriebsrat nicht zuvor einen Beschluss über die Zulässigkeit von Teilfreistellungen gefasst hat. Ein derartiges Erfordernis ergibt sich weder aus dem Wortlaut des § 38 Abs. 1 S. 3 BetrVG noch aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes.

Auf den Vorschlagslisten für die Freistellungswahl sind die einzelnen Bewerber in erkennbarer Reihenfolge unter fortlaufender Nummer aufzuführen, § 6 Abs. 3 S. 1 WO. Dies gilt auch für Bewerber, die nicht für eine Voll-, sondern für eine Teilfreistellung kandidieren. Bewerberpaare können nicht vorgeschlagen werden.

Bei der Aufteilung von Vollfreistellungen in Teilfreistellungen kommt derjenigen Vorschlagsliste das Bestimmungsrecht zu, der die Vollfreistellung zufallen würde.

BAG, Beschluss vom 24.03.2021 – 7 ABR 6/20

 

7. Keine Entscheidung über "Teileingruppierung" im Zustimmungsersetzungsverfahren

Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Ein- und Umgruppierung (§ 99 BetrVG) ist nicht beschränkt auf die bloße Einreihung der Tätigkeit eines Arbeitnehmers in eine bestimmte Vergütungsgruppe. Vielmehr umfasst das Mitbestimmungsrecht alle Faktoren, die im Zusammenhang mit einer Eingruppierung zu einem unterschiedlichen Entgelt führen können. Dies betrifft insbesondere die Zuordnung der Anzahl der Berufsjahre zu einer bestimmten Vergütungsstufe.

Im Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG scheidet eine gerichtliche Entscheidung nur über die zutreffende Entgeltgruppe, nicht aber über die jeweilige Entgeltstufe (sog. „Teileingruppierung“), demnach aus.

BAG, Beschluss vom 20.01.2021 – 4 ABR 1/20

 

8. Kein Anspruch auf Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen

Räumt eine Betriebsvereinbarung dem Arbeitgeber bei der Festsetzung eines Faktors zur Berechnung der arbeitnehmerseitigen Bonusansprüche ein Leistungsbestimmungsrecht ein, richtet sich dessen Ausübung gemäß § 315 Abs. 1 BGB nach billigem Ermessen.

Im Rahmen des Durchführungsanspruchs nach § 77 Abs. 1 S. 1 BetrVG kann der Betriebsrat lediglich verlangen, dass eine der Betriebsvereinbarung entsprechende Festlegung des Faktors vorgenommen wird. Er hat jedoch keinen Anspruch darauf, dass die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen ausgeübt wird.

Die Verpflichtung zur Bestimmung des Faktors nach § 315 Abs. 1 BGB betrifft nicht das betriebsverfassungsrechtliche Rechtsverhältnis zwischen den die Betriebsvereinbarung abschließenden Betriebsparteien, sondern nur das individualvertragliche Schuldverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber.

Die Frage, ob die erfolgte Leistungsbestimmung dem Maßstab der Billigkeit genügt, kann demnach ausschließlich im Individualklageverfahren entschieden werden.

BAG, Beschluss vom 23.02.2021 – 1 ABR 12/20

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